Geschichten der Ausstellung

Für die Ausstellung suchen wir Geschichten aus dem deutschsprachigen Raum

Bitte wenden Sie sich bei Interesse an: jkohler@irp-berlin.de

John Carter (England)

Im Alter von 12 Jahren war John Carter schon in Verbrechen verwickelt. Nachdem er 8 Jahre im Gefängnis verbracht hatte, bekam er die Gelegenheit eines seiner Opfer zu treffen. John ist nun verheiratet und Vater von 2 Kindern. Er arbeitet als Gärtner und studiert nebenbei Englische Literatur.

Ich war stolz auf meine Verbrechen – damit identifizierte ich mich, und sie zeigten den Leuten das ich ein dreckiger, übler Mistkerl war und dass niemand mir in den Weg kommen sollte.“

Lesen Sie hier die ganze Geschichte.

Schon während der Schulzeit begann ich, in Schwierigkeiten zu geraten – Diebstahl, Einbrüche und dergleichen. Im Alter von 14 Jahren brachte man mich für 3 Monate in die Jugendstrafanstalt, und gleich danach wurde ich mit Kleinkriminalität wieder rückfällig.

Nach meinem Schulabschluss hatte ich keinerlei Qualifikationen. Deswegen schloss ich mich dem Motorrad-Klub der „Hell´s Angels“ an. Zu dieser Zeit beging ich schwerwiegendere Verbrechen und machte das Leben meiner Mutter und meiner vier Schwestern zur Hölle. Aber für mich war es nur ein tolles Spiel wie „Räuber und Gendarm“. Ich saß mal im Gefängnis, mal war ich draußen, und beging sogar auf der Flucht ein schweres Verbrechen: in einer Kneipe habe ich einen Tisch in die Luft geschleudert und dabei wurde ein junges Mädchen im Gesicht schwer verletzt.

Nach einem bewaffneten Raubüberfall im Alter von 22 Jahren wurde ich zu 8 Jahren Gefängnis verurteilt. Ich hatte keinerlei Gewissensbisse, sondern war vom ersten Tag an rebellisch. Ich war stolz auf meine Verbrechen – damit identifizierte ich mich, und sie zeigten den Leuten, dass ich ein dreckiger, übler Mistkerl war und dass niemand mir in den Weg kommen sollte. Einmal befand ich mich für 18 Monate in Einzelhaft in Dartmoor, weil ich mich zu dem Zeitpunkt wie ein wildes Tier verhielt und jeden angriff. Ein Psychiater empfahl, dass man mich in ein therapeutisches Gefängnis namens Grendon Underwood schicken sollte.

In Grendon arbeiteten wir zusammen in kleinen Gruppen. Gewissensprüfung stand ganz oben an. Die Therapie hat mir sehr gut getan, so dass ich in der Lage war, anderen zu helfen. Doch allmählich war ich besorgt um meine Freilassung und ob ich wieder in die Kriminalität abrutschen würde. Zu der Zeit begann meine Bewährungshelferin, mir von der „Restorative Justice“, die auf Wiedergutmachung, Versöhnung und Vertrauensbildung hin angelegt ist, zu erzählen. Sie war der Meinung, dass ich jetzt Bereitschaft zeigte, mich einzufühlen. Sie schlug vor, ich sollte vielleicht eines meiner Opfer kennen lernen. Die Frage war, welches? Davon gab es buchstäblich hunderte. Meine Bewährungshelferin fragte mich, welches Verbrechen in meinem Gedächtnis hängen geblieben ist, das den größten Schaden angerichtet hat. Ich dachte sofort an jenen Zwischenfall in der Kneipe. Das Opfer wurde ausfindig gemacht, und erstaunlicherweise sagte sie einem Treffen mit mir zu.

Als ich ins Besucherzimmer kam, merkte ich, dass die junge Frau eine auffällige, 15 cm große Narbe auf einer Gesichtshälfte hatte. Ich hatte keine Ahnung, wer sie war, und doch hatte ich dieses tiefe Gefühl von Verbundenheit, weil wir etwas miteinander geteilt haben – etwas, das für sie natürlicherweise ganz negativ war. Wir saßen beide da und sahen uns an. Ich merkte, dass sie voller Wut war. Es war höchst traumatisch. Ihr Vater ballte seine Fäuste, ihre Mutter war verzweifelt. Ich begann als erster zu sprechen, und zum ersten Mal stellte ich fest, dass ich imstande war auszudrücken, wie ich mich im Moment meines Vergehens gefühlt hatte. Zum ersten Mal war ich auch in der Lage, die Verletzung, die ich angerichtet hatte, wahrzunehmen. Dann nahm sie mich mit hinein in das, was in ihr passiert war an jenem Abend und wie das seitdem ihr Leben beeinträchtigt hatte. Wir beide waren so niedergeschlagen, dass wir weinen mussten.

Endlich sagte ich ihr, wie sehr ich das bereute. Darauf, nach einer kurzen Pause, sagte sie: „Ich vergebe dir.“ Darum hatte ich nicht gebeten und es auch wirklich nicht erwartet. Aber diese Worte hatten auf mich eine tiefgehende Wirkung – auf der Stelle war mein Leben verändert. Mein Entschluss, so etwas nie wieder zu tun, stand fest. Was mein Opfer angeht, bin ich der Meinung, dass durch das Treffen mit mir ihre Angst ein Gesicht bekommen hat und dies ihr die Sicherheit gab, dass sie nie wieder angegriffen würde.

Das war 1989. Jedes Jahr, das vergeht, ist ist wieder ein Jahr, in dem ich nicht rückfällig wurde. Die Einzige, der ich dafür zu danken habe, ist mein Opfer. Sie hat mir dieses unglaubliche Geschenk gemacht.

Neulich dachte ich mir, es sei an der Zeit, meinen Kindern zu gestehen, dass ich im Gefängnis gewesen bin. Es war eines der schmerzhaftesten Dinge, die ich je tun musste. Meine Tochter wollte nichts weiter davon hören, mein Sohn hat nur gefragt: „Was für ein Revolver war das?“

Charlotte Maude (England)

Im April 1999 erlitt die 3-jährige Isabel Maude ein Multiorganversagen und einen Herzstillstand, weil Ärzte die Symptome einer lebensbedrohlichen bakteriellen Infektion des Fettgewebes und der Muskeln (nekrotisierende Fasziitis) nicht erkannten. Isabel überlebte mit einer großen Wunde, die aufwändige plastische Chirurgie nach sich zog.

„Vor Gericht zu klagen, hätte nur dazu geführt, den Ärzten die Medizin zu verleiden. Es schien uns irgendwie rachsüchtig.“

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Ihre Eltern, Charlotte und Jason Maude, entschieden sich dagegen, die Ärzte für ihre fehlerhafte Behandlung zu verklagen. Stattdessen entwickelten sie zusammen mit dem Spezialisten, der geholfen hatte, Isabels Leben zu retten, ein Online-Diagnoseprogramm namens ISABEL, das Ärzten und Krankenschwestern helfen soll, Erkrankungen bei Kindern richtig zu diagnostizieren. Dieses System, das von der „Isabell Medical Charity“ entwickelt wurde, verwendet eine Mustererkennungs-Software, um Lehrbücher zur Kinderheilkunde nach Informationen zu durchsuchen.

Am dritten Tag einer Windpockenerkrankung bekam Isabel hohes Fieber und wurde apathisch. Wir brachten sie zu unserem Hausarzt, der sagte, dies seien nur die Symptome der Windpocken. Am Abend entwickelte sich eine violette Schwellung auf ihrem Bauch. Deshalb gingen wir in eine Notaufnahme, wo uns ein sehr junger Arzt sagte, dass es nichts Schlimmes wäre.

Am nächsten Tag begann sie, Blut zu erbrechen. Wir telefonierten mit unserem Hausarzt, der uns bat, die Notaufnahme anzurufen. Die sagten uns nur, das es an Flüssigkeitsmangel liege. Sie dachten, wir wären nur nervöse Eltern, die bei ihren ersten Erfahrungen mit Windpocken gleich in Panik verfielen. Am Ende waren wir so verzweifelt, dass wir Isabel noch mal in die Notaufnahme trugen – sie lag fast tot in unseren Armen. Aber selbst als die Krankenschwester keinen Blutdruck bei ihr messen konnte, schob sie es auf einen Gerätefehler.

Erst als Isabel kollabierte und fantasierte, nahm uns endlich jemand ernst. Sie wurde sofort mit einem Krankenwagen bis zum St. Mary´s Krankenhaus in Paddington gefahren. Am Abend sagte man uns, dass sie die lebensbedrohlichen Symptome eines Toxischen-Schocks zeigte, verursacht durch nekrotisierende Fasziitis, auch „fleischfressender Keim“ genannt. Diese Krankheit verläuft in 60% der Fälle tödlich, und die einzige Möglichkeit, sie zu stoppen, ist, alles infizierte Gewebe herauszuschneiden. In der nun folgenden OP mussten Isabel große Gewebestücke aus ihrem Bauch entfernt werden.

Wir waren total schockiert, aber irgendwie nahmen wir jeden Schritt, wie er kam. Einige Male wurde uns gesagt, dass wir sie wahrscheinlich verlieren würden und dass sie sicher hirngeschädigt wäre, falls Sie doch überleben sollte. Einmal hatte sie einen Herzstillstand und eine halbe Stunde lang keinen Puls.

Und dann, wie durch ein Wunder, begann sie sich zu erholen. Die Ärzte konnten es nicht glauben. Als klar war, dass sie überleben würde, sagte uns ein Oberarzt im Vertrauen, dass wir im anderen Krankenhaus sehr schlecht behandelt worden waren. Gleichzeitig drängten viele unserer Freunde uns dazu, Klage einzureichen, und sagten, dass wir viel Geld bekommen könnten, um es bis zu Isabels 18. Geburtstag auf einer Bank zu verwahren.

Aber das fühlte sich verkehrt an. In unserer Kultur suchen wir immer einen Schuldigen und gehen davon aus, dass irgend jemand verklagt werden muss, sobald etwas schief geht. Ja, Isabel würde eine harte Zeit durchmachen wegen der OP und der daraus resultierenden Entstellung, aber Geld würde dagegen nicht helfen. Ein Gerichtsprozess hätte nur dazu geführt, den Ärzten die Medizin zu verleiden. Es schien uns irgendwie rachsüchtig.

Wir haben den Ärzten vergeben, dass sie die potentiell lebensbedrohlichen Symptome nicht erkannt haben. Diese frisch ausgebildeten Ärzte haben einfach noch nicht die Erfahrung, um kritische Krankheiten bei Kindern zu diagnostizieren.
Einige Leute haben uns gefragt, ob wir geklagt hätten, falls Isabel gestorben wäre. Wir kennen de Antwort darauf nicht genau. Ich glaube, wir hätten es nicht getan. Ich hoffe es zumindest.

Azim Khamisa & Ples Felix (USA)

1995 wurde Azim Khamisas einziger Sohn, der 20-jährige Student Tariq, erschossen, als er Pizza auslieferte. Sein Mörder, Tony Hicks, wurde der erste 14-jährige, der im US-Staat Kalifornien nach Erwachsenenrecht verurteilt wurde, und erhielt eine Freiheitsstrafe von 25 Jahren. An der Seite von Tonys Großvater und Vormund Ples Felix investiert Azim nun viel Zeit darein, die Vision der Tariq-Khamisa-Stiftung voranzutreiben, einer Organisationen, die das Ziel hat, „Kinder davon ab zu halten, Kinder zu töten“.

„Ich kam zu dem Schluss, dass es Opfer auf beiden Seiten der Waffe gab.“ (Azim)
„Tony war wütend: wütend über Missbrauch und Vernachlässigung und über das Leben mit einem strengen Großvater.“ (Ples)

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Azim Khamisa
Als ich den Anruf bekam, dass Tariq tot ist, war es, als ob ich meinen Körper verließ, weil der Schmerz einfach zu unerträglich war. Es war wie eine Atombombe, die in meinem Herzen explodierte. In meinem Herzen fand ich keinen Trost, und so wandte ich mich als sufistischer Muslim meinem Glauben zu. Die nächsten Wochen überlebte ich durch Gebet und erhielt bald den Segen der Vergebung, indem ich zu der Überzeugung kam, dass es Opfer auf beiden Seiten der Waffe gab. Tariqs Mörder hatte ein Kindergesicht. Er war 14 Jahre alt und gehörte zu einer Straßengang mit Namen Black Mob. Sein Gang Name war Bone.

Gleichzeitig kontaktierte ich Ples Felix, den Großvater und Vormund von Tony Hicks. Als ich Ples das erste mal traf, sagte ich ihm, dass ich keine Feindseligkeit gegen seinen Enkel hegte. Ples nahm die Hand der Vergebung an, die ich ihm anbot. Wir sind sehr verschieden: Ich trage Nadelstreifenanzüge, er hat Haare bis zur Hüfte. Aber seit wir uns getroffen haben, sind wir wie Brüder.

Fünf Jahre nach der Tragödie traf ich Tony. Das war eine sehr heilsame Begegnung. Ich fand ihn sehr sympathisch – wohlerzogen und reumütig. Ich sagte ihm, wenn er aus dem Gefängnis kommt, würde ein Arbeitsplatz in der Tariq-Khamisa-Stiftung auf ihn warten.

Ples Felix
Tony ist der einzige Sohn meiner Tochter. Er wuchs auf den gewaltgefüllten Straßen im Süden von Los Angeles auf und wurde im Alter von acht Jahren Zeuge des Mordes an seinem Cousin. Als meine Tochter sah, dass er immer mehr mit dem Gangleben konfrontiert wurde, schlug sie vor, dass er bei mir leben sollte. Ich ergriff die Gelegenheit, um Tony in San Diego als meinen eigenen Sohn großzuziehen. Am Anfang lief es gut, aber ab der siebten Klasse hing Tony mit sehr viel älteren Jugendlichen herum, die ihn vom rechten Weg abbrachten. Am Abend vor der Tat sagte ich ihm, dass er am Wochenende nicht weg gehen dürfe, wenn er nicht seine Hausaufgaben mache. Am nächsten Tag fand ich einen Zettel, auf dem stand: „Ich bin weggelaufen. Alles Liebe, Tony“. Meine Flinte fehlte ebenfalls. Nachdem ich Tony vermisst gemeldet hatte, sah ich in den Nachrichten einen Beitrag über einen Pizzaboten in North Park, der erschossen worden war.

Zwei Tage später bekam ich einen Anruf von einem Beamten der Mordkommission, der sagte: „Herr Felix, Ihr Enkel wird nicht länger als Ausreißer, sondern als Hauptverdächtiger in einem Mordfall angesehen.“ Alle möglichen Gefühle überfielen mich. Ich fühlte Wut, Scham und einen riesigen Verlust.

Tony war wütend: wütend über Missbrauch und Vernachlässigung und darüber, bei einem strengen Großvater leben zu müssen. Er hatte versucht seine Wut mit Drogen und Alkohol zu behandeln. Später erzählte er mir, dass er an jenem verhängnisvollen Abend mit älteren Gangmitgliedern herum gehangen hatte. Als ein Pizzabote auftauchte und sich weigerte, ihnen die Pizza ohne Bezahlung auszuhändigen, rief einer der Jungen, „Mach ihn kalt, Bone!“, Und Tony drückte den Abzug.

Von dem Moment, als er in Haft genommen wurde, bis zum Tag vor der Gerichtsverhandlung spielte er den starken Mann. Aber als er sich mit seinem Anwalt traf, wurde er gewarnt, dass es angesichts der Beweislage schwerwiegende Konsequenzen hätte, wenn er sich nicht schuldig bekennen würde.

Da drängte ich Tony, Verantwortung für seine Taten zu übernehmen, um den Schmerz und den Schaden zu vermindern, den er der Familie Khamisa zugefügt hatte. Er brach zusammen und weinte. „Es tut mir so leid, Daddy“, schluchzte er. Ich hielt ihn im Arm und versuchte, ihn zu trösten. Am nächsten Tag erwartete jeder dass er sich nicht schuldig bekennen würde, aber Tony hielt eine sehr reuevolle und emotionale Rede, in der er sich schuldig bekannte und Herrn Khamisa um Vergebung bat.

Als wir uns zu dritt im Gefängnis trafen, war das für Azim wahrscheinlich am schlimmsten. Am Ende, nach dem Azim gegangen war, sagte Tony: „ Das ist ein ganz besonderer Mann. Ich habe seinen einzigen Sohn erschossen, und trotzdem kann er hier mit mir sitzen, mich ermutigen und mir sogar eine Arbeitsstelle anbieten.“ (http://www.azimkhamisa.com)